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'Healthy community'

· Mosaiken

Gestalttherapie ist mir zu Beginn meines Studiums begegnet. Kommiliton*innen, die in der Behindertenbewegung aktiv waren, hatten das Buch von Fritz Perls, Gestalt Therapy verbatim, Gestalttherapie in Aktion in deutscher Übersetzung, in ihren Bücherregalen. Ich hatte die Chance, an einer Selbsterfahrungs- und Lesegruppe teilzunehmen. 'Wir Krüppel', das sagten einige über sich und zu sich selbst. Sich selbst bewusst. Ich kam aus einer Familie, in der verschiedene Spielarten von 'Perfektion' praktiziert wurden. Besonders eindrücklich zeigt sich eine dieser Spielarten in den künstlerischen Arbeiten meines Vaters. Und nun war ich gleichsam aufgespannt zwischen diesem familiären Anspruch, der weit in die Geschichte zurück geht, und einer Community, die ihre Differenz zu den die Gesellschaft durchdringenden Normen selbstbewusst zelebrierte und in Politik goss. In Forderungen, in Protest, in Aktion. Getragen von einem Ich-bin-ich und getragen von einem Wir-gemeinsam. Ich las im Buch von der Bedeutung des Hier und Jetzt, über Kontakt, über den Gebrauch der Sinne. 'Und das Ziel der Therapie (..) ist, dass du immer mehr von deinem "Verstand" verlierst und mehr zu deinen Sinnen kommst, mehr und mehr in Kontakt bist, in Kontakt mit dir selbst und in Kontakt mit der Welt, anstatt bloss in Kontakt mit den Phantasien, Vorurteilen und Befürchtungen und so weiter.' (p58) Lore Perls formulierte einen Zusammenhang zwischen Psychotherapie, bzw. Gestalttherapie und Politik: 'Wenn man mit Menschen daran arbeitet, an den Punkt zu gelangen, an dem sie eigenständig denken, ist dies politische Arbeit, und sie strahlt aus, auch wenn wir nur mit einer sehr begrenzten Zahl von Menschen arbeiten können.' Ich lernte, dass es auch Paul Goodman in der Gestalttherapie gibt, den US amerikanischen Aktivisten, von dem Susan Sonntag sich erinnernd schrieb: 'Mit seinen Büchern oder ohne, ich werde auch künftig von ihm gezeichnet bleiben. Ich werde auch künftig darüber trauern, dass er nicht länger lebendig ist, um in neuen Büchern zu sprechen, und dass wir alle jetzt weitermachen müssen in unseren täppischen Versuchen, einander zu helfen und zu sagen, was wahr ist, und in Freiheit zu setzen, was an Poesie in uns liegt, und des anderen Verrücktheit zu respektieren und sein Recht, im Unrecht zu sein, und unser Gefühl für ein zivilisiertes Gemeinwesen zu kultivieren, ohne dass Paul uns herumkommandiert, ohne dass Paul geduldig für alles verschlungene Erklärungen findet, ohne dass uns die Gnade von Pauls Beispiel gewährt ist.' Wofür mir Paul Goodman die Augen öffnete, war nicht nur die Freude am Vorläufigen, an der Versuchsanordnung im Denken, Verstehen, Sprechen, am Aufnehmen und Verwerfen, sondern auch sein Fokus auf die 'healthy community'. Also nicht nur Ich, sondern immer auch Wir und Uns. Die Leute mit dem für mich zukunftsweisenden Bücherregal machten es vor. Sie versammelten nicht nur Gleichgesinnte, Betroffene und Familien an ihrem Tisch, sondern alle, Politiker*innen, Mediziner*innen, Jurist*innen, Wissenschaftler*innen. Also: Nicht Kontakt verweigern, nicht aus dem Kontakt gehen, sondern dran bleiben, sich für die anderen, die Fremden, das Fremde interessieren. Ich glaube, nur so geht eine gemeinsame Welt, redlich im Jetzt des Vorläufigen.