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Aussteigen statt Aufsteigen?

Ein Beitrag von 2015 für die Huffington Post, die mittlerweile eingestellt wurde. Auch alt, manches ist immer noch ganz cool.

Aussteigen statt Aufsteigen? Ein Plädoyer für eigene Wege.

Vor einigen Jahren fiel mir ein sehr dickes Buch in die Hände, dicht an dicht beschrieben mit Geschichten über Lebens- und Arbeitsprojekte anderer Art, manche würden sagen über alternative Projekte. Ich war erstaunt über die Fülle und Vielfalt an Lebens- und Arbeitsformen, die Kreativität und Ernsthaftigkeit, mit der nicht nur junge Leute ihre Projekte mit Leben und ihr Leben mit Projekten erfüllten. Das Phänomen beeindruckt mich immer noch. Einige dieser Projekte beobachte ich aus der Ferne: Die meisten gibt es heute noch, stetig verändert, immer in Bewegung, sehr vital. Beispiele? Da kaufen ein paar Leute ein ganzes Dorf, andere pflegen gemeinschaftsorientierte Wohnformen, wieder andere gestalten ihre Art und Weise zu arbeiten und verzichten dabei auf Sicherheit zugunsten von Freiheit. Und vielleicht finden sie Sicherheit, Selbst-Sicherheit, durch diese Freiheit, die sie sich nehmen. Womit die Dialektik von Sicherheit und Freiheit, wie sie Freud in Unbehagen an der Kultur ausdeutet, möglicherweise neu zu denken wäre. Freud revisited.

Das Bedürfnis, die Spur eines anderen Lebens aufzunehmen ist nicht neu, im Gegenteil. Mittlerweile denke ich jedoch, dass wir es mit einer Aussteiger-Bewegung, einer Massen-bewegung, zu tun haben, zu der all die gehören, die sich nicht mit Haut und Haar einem herkömmlichen Karriereweg verschreiben, Männer und Frauen, die sich klug und eigensinnig innerhalb der bestehenden Systeme navigieren bis zu denen, die die alten Systeme verlassen und neue schaffen: Die Teilaussteiger, Karriereverweigerer, die gut ausgebildeten, erfahrenen Frauen und Männer, die sich bewusst zurücknehmen und sich auf weniger bequeme, dafür eigene Wege begeben. Sie tun dies beiläufig, ohne grosse Protestnoten, ohne mit der ‘alten’ Welt radikal brechen zu wollen. Das wäre old school und ohnehin nicht möglich. Dahinter stecken Selbstverantwortung, Reflexionsvermögen, Entscheidungsfreude, Veränderungslust. Und: Die Sorge um unsere Welt. Auf einem Camp für die Auszubildenden und Berufsstarter eines Technologieunternehmens werden die grossen Fragen thematisiert und verhandelt - Nachhaltigkeit, Frieden, Gesundheit, Zukunft von Arbeit - eingebracht von den Mitarbeitenden, in diesem Fall von den jungen. Fragen werden gefragt und Antworten gesucht, wie eigene Beiträge aussehen können und was getan werden muss. Mit diesen Fragen wird die Hintergrundfolie für die alltägliche Arbeit gemalt - keine Sonntagsreden, keine Alibiveranstaltungen, keine Eintagsfliegen. Sondern: Verantwortung übernehmen, Lösungen suchen und finden, Entscheidungen treffen (auch wenn sie den einen oder anderen aus der eigenen Komfortzone heraus treiben), Lust auf und Freude an Veränderung zu haben. Dies sind alles Eigenschaften, die vielerorts gebraucht und gesucht werden, nicht nur in sogenannten alternativen Lebens- und Arbeitskontexten. Und dass es sich am o.g. Beispiel gerade um ein Technologieunternehmen handelt, zeigt auch, dass Technologie und Verantwortung zueinander passen: Die alten Gegensätze lösen sich auf.

Und es gibt die andere Seite, die anderen Signale: Menschen werden krank in und an ihrer Arbeitswelt, sie ziehen sich zurück, manche zerbrechen. Beide Phänomene, Ausstieg und Krankheit, hängen zusammen, müssen allerdings seriös sowohl in ihren Gemeinsamkeiten wie auch unabhängig voneinander betrachtet werden. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angsterkrankungen nehmen zu. Dies muss uns alle sehr beunruhigen. Die Not der Menschen ist gross. Gleichzeitig werden immer wieder kritische Stimmen laut, die von der ‘Psychiatrisierung’ der Gesellschaft sprechen. Dieser kritische Diskurs trägt wesentlich zur Reflexion der Hilfeleistung und zum Verständnis wie der Einordnung der Krisensymptome bei, also in der Supervision, Intervision und Weiterbildung der helfenden Expertinnen und Experten. Ich halte ihn für zwingend notwendig, wenn auch in diesem Beitrag nur kurz gestreift. An dieser Stelle geht es mir lediglich darum, zwei scheinbar unterschiedliche Phänomene, Ausstieg und Krankheit, miteinander zu verknüpfen, wohl wissend, dass vieles lediglich angerissen werden kann.

Ich bin weit davon entfernt, eine Diagnose zum Ausstieg zu wagen. Dies hiesse ja, das Phänomen des Ausstiegs zu verstehen. Ich glaube auch nicht, dass es einfache Antworten geben kann. Eine zu einfache Antwort wäre zum Beispiel die Wachstumskritik verbunden mit einer Aufforderung zum Masshalten, wie sie in verschiedenen Facetten und seit Jahrzehnten immer wieder aufgebracht wird. In vielen der alternativen Lebens- und Arbeitsprojekten findet ja tatsächlich Wachstum statt, auch ökonomisches, aber eben nicht nur und nicht isoliert, sondern eingebettet in Konzepte, die offenbar ein attraktives Mass an Kongruenz ausstrahlen. Und es werden Überflüsse produziert. Überflüsse an Empathie, Austausch und Dialog. Überflüsse an Teilhabe und Selbstbestimmung. Überflüsse an Sinn- und Gestaltungs-Optionen. Wenn Jeremy Rifkin von der ‘Ablösung des ökonomischen Paradigmas’ spricht, wäre das eine weitere einfache Beschreibung. Vielleicht besteht der eigentliche Paradigmenwechsel im Ende des Paradigmas.

Ich glaube, dass es sich auch in herkömmlichen Organisationen und Unternehmen aussteigen lässt oder besser, dass auch Organisationen alten Schlags aussteigen können, nämlich aus den Fixierungen der vergangenen Jahre. Dazu braucht es allerdings anderes als noch eine neue Managementm(eth)ode. Einige Unternehmen gehen bereits andere Wege. Sie tun dies,

indem sie auch auf inneres Wachstum setzen, auf soziale Innovation, indem sie ihr Innen nicht gegen ihr Aussen ausspielen und umgekehrt, indem sie die Entwicklung ihrer Organisation als komplexes, Energie, Zeit, Ressourcen forderndes Unterfangen begreifen, das weder durch rezepthafte Verschreibungen noch durch Best Practice beschleunigt werden kann. Statt dessen: Kontinuierliche, kleinteilige und vielfädige Arbeit jenseits der üblichen Polaritäten, Arbeit an den eigenen Verhältnissen, eigene Wege gehen, innen und aussen. Auf diesem Hintergrund gewinnt Organisationsentwicklung etwas von ihrem eigenen Eigenen zurück, von ihren Wurzeln in den humanistischen Bewegungen. Und sie gewinnt Neues hinzu, nämlich wenn die grossen Fragen in allen Etagen von Unternehmen und Organisationen verhandelt werden, die von Nachhaltigkeit, Frieden, Gesundheit, Zukunft von Arbeit, der eigenen Nachhaltigkeit, der eigenen Friedfertigkeit,

der Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen, der Zukunft der eigenen Arbeit, der Innovations-fähigkeit, der Gestaltung der Märkte, der Kundenbeziehungen, und und und. Früher nannte man das Vision und Strategie.

Nützliche ‘Tools’? Ein verstärkter Blick auf Zusammenhänge und Wechselwirkungen, ein verstärkter Blick auf das Wissens-, Erfahrungs- und Reflexionskontinuum in Theorie und Praxis, das uns umfassender als je zuvor zur Verfügung steht und Investment in das Eigene. Vielleicht kriegen einige der Aussteiger Lust zum Einsteigen.